Cover
Titel
Das unzufriedene Volk. Protest und Ressentiment in Ostdeutschland von der friedlichen Revolution bis heute


Autor(en)
Pollack, Detlef
Reihe
X-Texte zu Kultur und Gesellschaft
Anzahl Seiten
230 S.
Preis
€ 20,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Ralph Jessen, Historisches Institut, Universität zu Köln

Titel, Thesen, Temperamente – der Name des ARD-Kulturmagazins könnte auch Leitmotiv des Buches von Detlef Pollack sein: Ein knackiger Titel, thesenstarke Pointen, beherzte Attacken. Wer auf dem engen Raum von 230 Seiten eine Analyse der ostdeutschen Protest- und Befindlichkeitsgeschichte seit 1989 anpacken und diese auch noch in die ost-westliche Beziehungsgeschichte einbetten will, kommt um Verdichtung und Zuspitzung nicht herum. Zumal dann nicht, wenn sich der Text ganz unterschiedlicher literarischer Genres bedient: Der Anlage nach ein flott geschriebener Essay, zugleich aber theoriegestützte sozialwissenschaftliche Analyse, kombiniert mit punktuellen historiographischen Fallstudien, ergänzt um autobiographische Einsprengsel und gewürzt mit polemischen Seitenhieben.

Letztere haben ihre eigene Vorgeschichte: Zum 30. Jahrestag der friedlichen Revolution lieferte sich der Münsteraner Religions- und Kultursoziologe eine kleine Feuilletonschlacht mit einigen Bürgerrechtsveteranen der späten DDR, in der es um die Deutung von 1989 ging: Bahnte ein Häuflein oppositioneller Aktivisten den Weg zur friedlichen Revolution oder das unzufriedene Volk? Diesen Streit greift Pollack im ersten von drei Kapiteln noch einmal auf. Scharf wendet er sich gegen die „Vereinnahmung der friedlichen Revolution durch eine kleine Minderheit von ehemaligen DDR-Oppositionellen“ (S. 18), die ihren eigenen „Heldenmythos“ (S. 16) pflegen würden. Mikrohistorische Studien zu den Protesten des Herbstes 1989 in fünf ostdeutschen Städten zeigten vielmehr, dass vor allem die Fluchtwelle seit dem Sommer eine breitflächige Verschiebung der „Stimmungslage“ zur Folge hatte, so dass immer mehr Menschen ihre Angst überwanden, ihren aufgestauten Unmut öffentlich äußerten und sich erstmals als kollektiv und autonom Handelnde wahrnahmen. Die inkonsequenten Reaktionen des Regimes schufen eine neue „Gelegenheitsstruktur“, in der staatliche Repression den Protest anstachelte, ohne ihn effektiv unterdrücken zu können. So wichtig die katalytische Wirkung oppositioneller Gruppen etwa in Leipzig und Berlin gewesen seien mag – entscheidend war die „Volksbewegung“, die sich weitgehend spontan entfaltete: „So wurde der Zug mehr von hinten geschoben als von vorn geführt.“ (S. 57) Wer dies nicht angemessen gewichte, pflege einen „Mythos, der die DDR-Bevölkerung ihres Anteils an der Revolution beraubt und auf ihre Geringschätzung, ja teilweise auf ihre Verachtung hinausläuft“ (S. 80).

Entlang dieser Argumentationslinie interpretiert Pollack im zweiten Kapitel auch den rasanten Marsch in Richtung staatlicher Vereinigung nach dem 9. November 1989. Während „Volk“ und Bürgerrechtler bei der Ausschaltung des Staatssicherheitsdienstes noch an einem Strang zogen, drifteten sie in Hinblick auf fundamentale Zukunftsfragen auseinander: Alle diffusen Vorstellungen einer grundlegend reformierten und demokratisierten DDR, die in Oppositionszirkeln und am „Runden Tisch“ kursierten, fegte „das Volk […] mit seinem unbedingten Willen zur schnellen Vereinigung“ und im „Zweckbündnis“ mit Helmut Kohl beiseite (S. 116, 131). Dass der Weg im vereinten Deutschland schwer werden würde, war, so Pollack, dem ostdeutschen „Volk“ durchaus bewusst.

Anfänglicher Optimismus und Selbstvertrauen erodierten allerdings angesichts des massiven Deindustrialisierungsschocks, der den Boden für nachhaltige Frustration, Distanz und Unzufriedenheit bereitete, die Gegenstand des dritten Kapitels sind. Hier bewegt sich der Text mit Rückgriff auf einschlägige Erhebungen der zeitgenössischen Transformationsforschung am ehesten auf dem Terrain sozialwissenschaftlicher Analyse. Aus der Fülle der vorgestellten Daten und Deutungen lässt sich eine Generalthese herausdestillieren: Nicht Schocktransformation, Treuhand und Massenarbeitslosigkeit allein trieben „die Ostdeutschen“ in den 1990ern auf die Barrikaden und in ostalgische Sehnsüchte, sondern letztlich das sozialmoralische Setting der Vereinigungsgesellschaft. Die ersehnte Einheit brachte Freiheit, Rechtsstaatlichkeit, Demokratie und gewaltige Milliardentransfers. Sie brachte aber auch die alltägliche Konfrontation mit westdeutschen Überlegenheitsattitüden, dem Gefühl erniedrigender Abhängigkeit, anhaltenden materiellen Disparitäten zwischen Ost und West und – vor allem – mit Ignoranz und mangelnder Anerkennung der Westdeutschen gegenüber dem „gelebten Leben“ in der DDR. Wo Polen, Letten oder Tschechen die „große Transformation“ (Philipp Ther), so hart sie war, als eigene Leistung erleben konnten, lebten die Ostdeutschen in permanenter und zutiefst widersprüchlicher Fixierung auf die westdeutsche Referenzgesellschaft, der sie jetzt angehörten und von der sie sich zugleich ausgeschlossen und bevormundet fühlten, auch als das Tal der Tränen nach der Jahrhundertwende durchschritten war.

Auf diesem mentalen Boden, so die These Pollacks, gedieh eine neue ostdeutsche Identität, die „sich erst nach dem Untergang der DDR herausgebildet hat und vor allem in einem Gefühl der Kränkung und Zurücksetzung besteht", das „vor allem durch Erfahrungen der Nichtanerkennung, Gefühle der Unterlegenheit, Neiddiskurse und Selbststigmatisierungen vorangetrieben wurde“ (S. 211). Hieraus erkläre sich nicht nur die verbreitete Bereitschaft zum rechtspopulistischen Protest und entsprechendem Wahlverhalten, sondern auch ein ressentimentgeladener Habitus, den der Autor in einem abschließenden „Porträt“ der Ostdeutschen in düsteren Farben zeichnet. Aber auch in den obstinaten Ressentiments, in den „Klagegesängen und Opferplots“ (S. 229) scheine noch die Handlungsmacht des „unzufriedenen Volkes“ im Osten auf, das sich so der anhaltenden Aufmerksamkeit der politischen Klasse, der Medien und der wissenschaftlichen Beobachter versichere. Voilà!

Natürlich macht sich ein Autor angreifbar, der so forsch und thesenfreudig durch dreißig turbulente Jahre geht und dabei auch vor subjektiven Kommentaren nicht zurückscheut. Manches wirkt überzogen, es gibt Widersprüche, dem arg plakativen Porträt der Ostdeutschen hätte größere analytische Nüchternheit und stärkere Differenzierung gut getan, auch hätte man sich weniger Pauschalisierung und mehr Reflexion der Begriffe und Kategorien gewünscht – die methodische Einsicht, „dass es das Volk in einem soziologischen Sinne gar nicht gibt“, kommt auf S. 226 reichlich spät, nachdem der Begriff bis dahin ziemlich unbekümmert verwendet wurde. Aber man sollte das Buch auch weniger als abschließenden, methodisch durchkomponierten und empirisch wasserdichten Befund zur jüngsten deutschen Revolutions- und Vereinigungsgeschichte lesen. Sein Ertrag und Potential liegen gerade in der pointierten These, im herausfordernden Diskussionsangebot und in dem allemal anregenden und inspirierenden Anspruch, die mentalen Voraussetzungen und Folgen von Revolution und staatlicher Vereinigung im Zusammenhang zu thematisieren.

Bei allen Zuspitzungen wird Detlef Pollacks Buch von einem kritisch-analytischen Interesse getragen: Lieb gewonnene Mythen zum Herbst ‘89 werden auf den Prüfstand gestellt und die Handlungsmacht der „Vielen“, die sich nicht um neue Utopien scherten, sondern hier und jetzt Freiheit und ein besseres Leben forderten, wird zurecht hervorgehoben. Das gilt auch für die Inspektion der mentalen, kulturellen und politischen Rückwirkungen der sich hinschleppenden „Vereinigungskrise“ (Jürgen Kocka), die insgesamt noch mehr Raum verdient hätte. Vor allem einen zentralen Punkt wird man mit Pollack sehr betonen müssen: Vieles, was als Besonderheiten der politischen Kultur, der Einstellungen und der nachrevolutionären Identitätskonstruktion im Osten zu beobachten ist, entwickelte sich nicht trotz, sondern wegen der deutschen Vereinigung. Zu den kollektiven Erfahrungen der Ostdeutschen gehören eben nicht nur Diktatur und Revolution, sondern auch eine staatliche Vereinigung unter westlichen Bedingungen, in der sie zwar als Deutsche anerkannt wurden, in der Praxis aber als Ostdeutsche mit ihren spezifischen biographischen Prägungen oftmals Fremde blieben.